Kollege Tod
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Ich darf mich kurz vorstellen – nicht aus Eitelkeit, wirklich nicht, die habe ich hinter mir – nur um das Folgende besser verständlich zu machen. Ich bin also ich,
mehr muss niemand wissen, mehr würde, wie gesagt, nur in ein Produkt der Eitelkeit ausufern. Für Eitelkeit bin ich mit 75 Jahren zu alt. Da gibt es keinen Grund für Eitelkeit mehr, Eitelkeit wäre albern. Ich habe weitestgehend gelebt, alles was jetzt noch kommt, läuft schon unter Zugabe. Das Körperliche habe ich meistenteils hinter mir. Der Kopf funktioniert noch, naja, einigermaßen.
Das Folgende habe ich vorgestern ziemlich genau so erlebt, wie ich es unten beschrieben habe, es ist eine Art Gedächtnisprotokoll von dem, was vorhin passierte. Vielleicht macht es für ängstliche Menschen sogar Sinn, wenn Sie es nicht lesen…:
Okay, Sie wollen es offenbar so. Ich sitze also so wie manchmal einfach so herum, mache nichts, halte die Augen geschlossen, was ich manchmal tue, denke ein wenig in mich hinein, aber wirklich nichts Wichtiges. Ich bin entspannt. Es ist später Vormittag – kurz nach 11.30 Uhr. Eigentlich Zeit für einen Café. Ich weiß nicht, ob die Zeit oder der Café wichtig sind, ich erwähne sie der Vollständigkeit halber (und um zu zeigen, dass ich im Kopf noch da bin). Nein, die Zeit ist wohl nicht wichtig. Der Café und der nicht genannte Ort auch nicht.
Plötzlich sitzt da einer neben mir auf dem Sessel, der eigentlich nur Platz für einen bietet. Er scheint sehr schlank zu sein. Und leicht. Ich wechsele im Folgen ein wenig zwischen den Tempi, weil das Erlebte mich doch verwirrt hat! Ich sehe keine Delle im Polster, wo er sitzt. Hallo, grüßt er mich freundlich, bist Du bereit? fragt er. Und dann fügt er hinzu: Entschuldigung, ich bin unhöflich, was eigentlich nicht meine Art ist. Darf ich mich Dir vorstellen, und entschuldige, wenn ich Dich duze, aber wir haben eine enge Beziehung, Du und ich, die das Du, glaube ich, erlaubt: Man nennt mich den Tod, früher lief ich unter Gevatter Tod. Er hatte etwas in der Hand, was entfernt nach einem Handi aussah aber ganz bestimmt keines war.
Er nimmt mein Erstaunen zur Kenntnis, als ich über seinen Kopf sehe. Nein, sagte er, lächelnd: Keine Sense mehr, das war einmal, heute arbeiten wir hiermit und wedelt mit diesem Handidings. Das ist ein, nennen wir es ein Todometer. Das Teil ist eine sehr beeindruckende Geschichte, wenn man alles verstehen würde, was es kann. Du kannst das nicht. Dir fehlen einfach ein paar Dimensionen. Das Ding hier – er wedelt damit wieder vor meiner Nase herum – arbeitet siebendimensional. Sehr eindrucksvoll, wirklich! Nenne es einfach eine app, das würde Dir helfen. Apps auf Euren Handis verstehst Du ja auch nicht, auch wenn Du dreidimensional denken könntest, wenn Du Dir Mühe geben würdest, aber Du verwendest sie trotzdem. Das Todometer hat Dein ganzes Leben und eine Hochrechnung von Deinem Danach gespeichert. Und zusätzlich die Daten aller intelligenten Lebewesen auf diesem Planeten. Nein, nein, winkt er ab, Du musst nicht staunen, erstens sind das gar nicht so viele wie Ihr Menschen vermutet, und zweitens siehst Du hier nur eine dreidimensionalen Anteil des Gerätes, es reicht aber in fünf Dimensionen. Klar? Nein! Das sehe ich Dir an. Egal. Das Wichtigste der Todometer-Daten sind für jedes Wesen zwei Angaben: Die Zeit bis zu Deinem Tod (als negative Zeit) und dessen Eintrittswahrscheinlichkeit, die zum Schluss immer bei einhundert Prozent liegt. Ich komme gerne rechtzeitig, also früh genug, um noch ein wenig mit meinen Gästen zu plaudern. Wir sagen Gäste, nicht etwa „Gleich Tote“ oder „Todeskandidaten“ oder "Opfer"... Ihr würdet das sonst falsch verstehen und Euch ängstigen. Und Angst erzeugt bekanntlich Stress. Und Stress ist nicht gut für einen ruhigen Übergang. Ein unruhiger Übergang beeinflusst nämlich das Danach… Die Sterbewahrscheinlichkeit liegt eigentlich immer über 98% und steigt dann irgendwann rasant… - sag´ einmal, langweile ich Dich?
Nein, tut er nicht, aber ich bin nur sehr überrascht, deshalb bringe ich für eine Weile kein Wort heraus.
Soll ich jetzt sterben? fragte ich schließlich die nahe liegende Frage? Jetzt? Mir geht es doch gut! Ehrlich, mir ist gar nicht nach Sterben!
Er nickte mir verständnisvoll zu, schaut dann lässig auf sein Todometer – business as usual, vermute ich. Sein Gesichtsausdruck verändert sich, verrät plötzlich ein gewisses Erstaunen, was mich die Sache gleich etwas positiver sehen lässt.
Ist ´was? frage ich. Vielleicht lässt sich ja noch etwas machen?
Ist ´was? fragte ich also hoffnungsvoll noch einmal.
Naja, sagte er irgendwie erstaunlich unentschlossen, das Todometer sagt jetzt etwas anderes für Dich als vorhin, als ich aufgebrochen bin.
Ist das gut oder schlecht für mich? will ich wissen.
Wie man´s nimmt? murmelt er, ganz wie man´s nimmt?
Was ist denn los? lautet meine nächste Frage schon wieder. Das interessiert mich brennend. Ist mein Tod abgesagt worden?
Hhm, er zeigt mir den kleinen Bildschirm auf seinem Handidings, auf dem Farben zwischen Gelb und Blau mit einem Stich Rot in einem Rhythmus pulsieren, der mich an „Under my Thumb“ erinnert. Verrückt, was man in solchen Momenten denkt oder erlebt.
Schau mal, sagt er, man sieht deutlich, dass Deine Lebenszeit schon im negativen Bereich ist, die Zahl ist positiv, also überziehst Du gerade. Du müsstest zwar schon tot sein, aber Deine Sterbewahrscheinlichkeit beträgt nur 23,833462 und ein paar zerquetschte Prozentbruchteile. Damit dürftest du noch nicht gestorben sein. Bist Du ja auch ganz offenbar noch nicht. Die Daten passen einfach nicht zusammen. So etwas passiert zum ersten Mal, das steht hier auch. Unikat im Universum. Du bist offenbar etwas Besonderes. Der Bildschirm schliert jetzt grau-violett vor sich hin. Gut sieht das nicht aus, finde ich, aber es schien gut für mich zu sein.
Dann muss ich jetzt nicht sterben? fragte ich.
Nein, vermutlich nicht, es sieht jedenfalls so aus!
Gott sei Dank, entfährt es mir.
Der hat nun vergleichsweise wenig damit zu tun, erläuterte er, auf den würde ich mich an Deiner Stelle nicht verlassen, das ist ein ziemlich windiger Hund.
Du kennst ihn? Du kennst Gott? Wirklich? frage ich mit einer Haltung zwischen erstaunt, ungläubig und bewundernd. Kein Wunder, finde ich, da kommt einer, sagt, er sei mein Tod und kenne Gott... Das muss ich erst einmal verdauen.
Klar, nickt er, natürlich, sitze oft in der Kantine neben ihm, er hat super lustige Geschichten drauf von damals als sie das Universum geschaffen haben – aber nicht von hier, eher aus anderen Ecken des Universums.
Sie? Gibt es denn mehrere?
Was denkst Du denn? Das macht alles einer? Du, das ist eine Scheißmenge Arbeit, so ein verdammtes Universum aus einer Singularität zu erschaffen. Singularität sagt Dir etwas? Gut. Und dann beginnt die eigentliche Arbeit ja erst. Das mit dem Urknall ist ja nur der Wiederhall des Fingerschnippens von den Göttern. Das muß absolut glrichzeitig passieren, sonst passiert nämlich nix! Dann müssen die diversen universellen Konstanten in allen Dimensionen eingepegelt werden, sonst knüllt sich das ganze schöne Universum in Nullkommanix wieder zusammen, und die können wieder von vorne anfangen. Klar, die haben Singularitäten en masse auf Vorrat. Aber das wäre schon eine peinliche Nummer, das kannst Du mir glauben.
Und die Dreifaltigkeit? wollte ich wissen, was ist mir der?
Total überschätzt, winkte er ab. Kannst Du vergessen. Das meiste davon ist nur PR. Am nächsten dran waren die Alten Wikinger. Walhalla und so... Ziemlich gute Nummer Da muss einer gespitzt haben…
Mir war das im Moment zwar nicht egal, für mich zählt im Moment vor allem, dass ich jetzt nicht sterben würde. Die Sache mit Gott und den Göttern ist interessant, kann aber warten.
Er scheint mir meine Erleichterung anzusehen. Ich finde ja, sagt der Tod, den man sich als gutaussehendes divers-geschlechtliches Wesen multipler Geschlechter (oder keiner?) in sehr bunten Klamotten vorstellen darf (um ein Ihnen geläufiges Bild zu verwenden: Ein wenig wie David Bowie als Ziggy Stardust. Allerdings scheint mir sein Anzug etwas aus der Mode geraten!), dass das Leben von den Lebewesen meist überschätzt wird! Was ist da denn schon dran. Das meiste ist doch auf allen Planeten aller Galaxien das Gleiche: Blöde und öde Plackerei: Arbeit, Arbeit und noch einmal Arbeit. Und kaum bist Du als Lebewesen damit fertig, geht es doch schon von vorne wieder los. Und dann die Fortpflanzung. Unsinn, wenn Du mich fragst, das kann man viel einfacher haben: Ungeschlechtliche Knospung zum Beispiel. Läuft bei Dir auf der Erde bei Quallen und in anderen Gebieten der Galaxis bei den meisten Lebewesen ganz easy ab. Null Probleme. Für Euch Menschen bedeutet es doch: Wenn es hoch kommt, bedeutet das für die werdende Mutter zwei Minuten Gejuckeln, neun Monate mit ´nem dicker werdenden Bauch durch die Gegend laufen, dann eine scheiß-schwere Geburt und schließlich 25 Jahre Verantwortung, für den Herrn Papa zwei Minuten Spaß und 25 Jahre Verantwortung. Liebe? Selten. Liebe über 26 Jahre: Sehr selten, fast ausgeschlossen.
Von einem Kaiser-Pinguin habe ich mir mal sagen lassen - was schaust Du mich so an, natürlich sind die Intelligent, nicht sehr, aber immerhin! -, dass das Leben für sie vor allem Frieren und für die Herren Pinguine ein Ei auf den Füssen balancieren heißt. Dabei gilt es sechs Monate Winterstürme in der Antarktis abzuwettern und die ganze Zeit nichts essen. Dann kommt die dick gefressene Alte wieder, übernimmt das Ei, und Herr Pinguin darf durch die halbe Antarktis dackeln, bis er das Meer erreicht hat. Und wehe, er hat die Badehose vergessen…
Ich könnte allein von Deinem Planeten Geschichten von Lebewesen erzählen, Junge, von denen Du noch nie etwas gehört hast, da würdest Du staunen. Ich sage nur Kalmare! Superinteressant! Ich verstehe Euch einfache Lebewesen wirklich nicht, warum Ihr so sehr an Euren niedrigdimensionalen Leben hängt? Schon das kleinste Bakterium will leben, jede einzelne Zelle will unbedingt leben. Der Tod oder das Sterben ist ja erst mit der Mehr- oder Vielzelligkeit in Eure Evolution gekommen. Du willst leben, leben, leben... Warum? Wofür? Etwa um Euch fortzupflanzen… Ist das Euer großes Ziel? Eine|einer in einer doch endlichen Reihe zu werden? Ihr kennt die meisten in der Reihe vor Euch nicht, und Ihr werdet die Meisten in der Reihe nach Euch auch nicht kennen. Ihr seid ein Millimeter im Meterstab des Lebens Eurer Rasse. Ihr würdet Eure Nachfahren sogar nicht verstehen, so viel neue High-tech-Technik, entschuldige, wenn ich lächeln muss, wird es geben. Ihr werdet unter Schmerzen in eine popelige kleine Weltkugel in ein minimales Zeitfenster hinein geboren. Ihr seid eigentlich nichts. Dann heißt es wachsen und lernen, schließlich arbeiten und leiden, und zum Schluss eigentlich nur noch leiden. Mist. Ich begreife Euch nicht. Ich begreife nicht, warum nicht viel mehr von Euch den Notaus-Schalter betätigen, um mich früh zu rufen. Erlösung nennt man das. Ich bin gut als Erlöser. Echt.
Naja, wende ich ein, wenn ich mich recht erinnere, waren da auch verdammt gute Zeiten dabei…
Welche denn? will der Tod wissen.
Hhm, das geht Dich eigentlich gar nichts an, finde ich, winde ich mich.
Er schaut mich eine Zeit lang konzentriert an, dann beginnt er mich anzugrinsen, um schließlich zu sagen: Du meinst doch nicht etwa…? Oder…? Nein, das kannst Du nicht meinen…, das nicht? Na gut, eines will ich Dir zugute Halten: Du hast keinen Krieg erlebt. Naja, kann ja noch kommen…
Bist Du wahnsinnig, Mann? blaffe ich ihn an. Was soll diese Bemerkung? Weißt Du ´was, was ich nicht weiß? Los, spuck´s aus, heraus damit! Du glaubst doch nicht, dass die Russen…? Ich meine weitermachen in Polen und im Baltikum?
Er schaut mich irgendwie mitleidig-lächelnd an, wiegt den Kopf hin und her, scheint einen Moment zu überlegen, ob und was er mir sagen soll oder darf und meint schließlich, dass die Wetten für einen wirklich großen Krieg in den nächsten zwei Jahren unter Kollegen so ziemlich fifty-fifty stünden. Und dann ist da ja noch die Taiwan-Geschichte, oder?
Er scheint gut informiert zu sein.
Da Ihr die Ukraine allein gelassen habt, denkt der Chinese vielleicht: Ach sieh mal an, was der Russe kann, kann ich auch!
Jetzt ist es an mir, ihn anzuglotzen. Ich denke Du weißt mehr oder alles? sage ich, wenn Du mehrdimensonal bist, kannst Du doch auch die Zeitschiene rauf und runter rutschen, oder?
Klar, lacht er, theoretisch ja - theoretisch! Aber die Zeit ist keine gerade Linie, wie Du sie Dir jetzt sicherlich vorstellst, eher eine gepunktete, sehr krumme, die wie ein Fluss hin und her mäandert. Und sich sogar aufspaltet und in mehreren Zeitarmen weiter läuft. Jeder Arm oder jede Windung ist mit einem anderen Wahrscheinlichkeitskoeffizienten korreliert - da kann sich immer noch etwas ändern, sogar rückwirkend. Nun glotz nicht so, es IST kompliziert, das gebe ich zu. Die Abhängigkeiten sind auch für uns nicht voraus zu berechnen, höchstens näherungsweise! Panta rei..., sozusagen. Deshalb die Wetten!
Apropos Kollegen, wollte ich jetzt wissen, Kollegen? Was meinst Du mit Kollegen? Hast Du Kollegen? Ich denke, Du bist der Tod. Gevatter Tod. Oder ist das wie bei Gott. Du bist viele oder alle sind Du?
Klar, ich bin ich aber als Multiple! Ich bedeutet wir. Natürlich gibt es mehrere, nein, viele von mir – unbegrenzt viele aber nicht unendlich viele. Wenn meine Zahl unendlich wäre, wäre das Universum ja voll von mir, nicht wahr? Und ich gehe | wir gehen mit Eurer Zeit. Eine Zeit lang, ist schon ´was her, trugen wir tatsächlich Sensen! das war hilfreich, dass die Menschen uns verstanden haben. Ohne Sense hätten die uns damals nicht ernst genommen. Im Moment arbeiten wir allerdings mit apps. In Zukunft werden wir wohl mxrfts tragen – aber das kannst Du nicht verstehen, das ist eine neue Technik, die noch gar nicht entwickelt ist. Bei mir werden die ersten Multiples schon auf mxrfts geschult. Wir passen uns an die örtlichen und vor allem temporären Gegebenheit an, damit Ihr uns lokaltemporär versteht, nicht wahr. Und Ihr werdet die mxrfts in ca. 50 Jahren auch entwickeln.
Er schaut mich an und sieht, dass ich nicht viel von dem, was er sagt, verstehe. Ist egal, murmelt er für sich, ist schon gut, zurück zu Deinem Niveau: Überlege doch mal, meint er sachlich, hier auf der Erde gibt es ca. 8*109 Menschen. In dieser Galaxis gibt es 2*1010 Sterne mit im Durchschnitt jeweils 10 Planeten. Davon ist jeder Hundertste von intelligenten bis klugen Lebewesen bewohnt – im Schnitt 109 Wesen pro Planet. Jedes Wesen erwartet mehr oder weniger den Service, individuell „abgeholt“ zu werden, wenn er|sie|es|was auch immer ans Sterben kommt. Gehen wir einmal von 500 Tagen pro Umlauf pro Durchschnittsplanet aus und lass die Wesen im Schnitt 50 Umläufe alt werden. Das bedeutet 8*1013 Sterbende pro Tag. Ich schaffe – im Akkord – 6 Sterbende pro Tag. Also kannst Du leicht berechnen, dass es mindestens 1,3*1013 Klone von mir gibt, damit ich als wir die Arbeit schaffe.
Wenn ich mich resp. wir Klone uns zu einer Arbeitstagung treffen, benötigen wir natürlich einen ganzen leeren Planeten als Tagungsraum oder besser Tagungsplanet. Das geht natürlich nur auf Planeten, die mehrere Sonnen umlaufen, und die deshalb den ganzen Planetentag auf dem gesamten Planeten ein Klima aufweisen, dass wir uns im Freien aufhalten können, und wo immer mindestens eine der Sonnen scheint. Da wird eine gewaltige Technik installiert, das kannst Du mir glauben, obwohl es unglaublich ist.
Warum? frage ich.
Was? fragt er.
Warum müsst Ihr da alle hin, es müsste doch reichen, wenn da nur einer ist, wenn ihr doch geklonte Multiples seid, oder? Ich habe Dich so verstanden, dass was einer | eine |eines weiß, dann alle wissen.
Nanu, kommt er ins Nachdenken, schließlich sagt er: Menschlein, Du hast vielleicht recht, da sollte ich mal drüber nachdenken - das könnte ein Verbesserungsvorschlag sein, der sich lohnen könnte. Da gibt es nämlich Prämien, weißt Du.
Wir schweigen uns eine Weile an. Ich bin platt, weil er offenbar noch nicht daran gedacht hat, und er ist offenbar sauer, weil er noch nicht daran gedacht hat. Also: Stille!
Sag mal, frage ich nach einer Weile des Schweigens, als Tod weißt Du doch wohl, was dann passiert?
Nach dem Tod? frage er.
Ja, genau. Was kommt dann? Wiedergeburt als Octopus oder als Wurm? Tausend Jahre in siedendem Öl gesotten werden? Halleluja-Rufen auf einer Wolke?
Erst schaut er mich an, dann prustet er laut los. Nach einer Weile muss er Luft holen. Japsend sagte er: Nein, nichts von dem. Weißt Du, der Tod an sich ist ein Prozess der Umwandlung. Wie soll ich es Dir in einfachen Worten erklären, denkt er laut nach.
Nach einer Weile fragt er, sag mal, Du kennst doch Libellen?
Ja.
Und Du weißt, dass die zuerst ein paar Jahre als Larve ziemlich mies räuberisch unter Wasser leben und alles fressen, was ihnen vor die Fangmaske kommt? In so einem Tümpel mit Libellenlarven möchtest Du keine Kaulquappe sein, das sage ich Dir. Er schüttelt sich bei dem Gedanken, als hätte er es persönlich erlebt.
Ja. Klar.
Du weißt auch, dass Libellenlarven nach mehreren Jahren unter Wasser eine Metamorphose durchmachen, nach der sie als wunderschöne Fliegelebewesen wieder auferstehen, um sich für ein paar schöne Tage in die Lüfte zu erheben? Erst leben sie unter Wasser, dann durchbrechen sie eine Mauer (die Wasser-Luft-Grenze) und erobern eine neue Dimension: Die Lüfte!
Ja. Natürlich. Ich sehe fern. Da kommen solche Sendungen: Libellen, Metamorphose – schon von gehört!
Siehst Du, sagt der Tod und legt mir eine gewichtslose Hand auf den Schenkel, vielleicht um mich zu beruhigen(ich bin ganz ruhig), und so ähnlich ist das auch mit den Menschen. Menschen sterben hier auf der Erde, dann hole ich|wir den Sterbenden oder Toten ab und führen ihn durch einen Prozess, den man als Metamorphose beschreiben könnte… Er schwieg plötzlich.
Und dann? will ich wissen, was passiert dann?
Naja, dann entsteht etwas Neues.
Jaaa? Was denn?
Etwas anderes, eigentlich etwas ganz anderes, musst Du wissen.
Was denn nun? Was wird aus mir?
Ein geistiges Wesen.
Ein Engel?
Nein, nein, ein Engel ist nur eine Idee. X-Tausend auf einer Nadelspitze und so… Eure Transformation geht anders. Ihr werdet …
Er hat es mir erzählt, erst zögerlich, aber schließlich doch alles – aber dann holt er so ein Blitzdings aus der Tasche, drückt auf einen Knopf, es gibt diesen Blitz zum Vergessen. Sie wissen schon, so ähnlich wie in „Men in Black“, und ich hatte die letzten fünf Minuten, in denen er mir ALLES erzählt hatte, vergessen. Sie hätten jetzt gerne gewusst, was er mir alles erzählt hat? Das ist schon klar… Tja, tut mir leid, ist aber so. Alles weg!
Als ich nach offenbar kurzer Bewusstlosigkeit wieder zu mir gekommen bin, sitzt er noch neben mir und schaut zweifelnd auf seinen (oder meinen?) Todomaten. Ja, sagt er bekümmert, da ist wirklich etwas schiefgelaufen, Du würdest sagen, da ist ein Gerät kaputt gegangen. Das ist das erste Mal überhaupt passiert, das passiert sonst nie oder noch nie. Komisch. Dein Todeszeitpunkt hat sich verschoben. Du stirbst…
Ich will es nicht wissen, sagte ich schnell.
Na gut, sagte er, ich will zusehen, dass ich es wieder sein werde, der dann für Dich eingeteilt wird. War ganz nett mit Dir zu plaudern. Bis zum nächsten Mal dann. Damit war der Platz neben wir auf dem Sessel, wo eigentlich gar kein Platz gewesen war, wieder leer, weil er fort ist.
Ich habe aber gar nicht alles vergessen, sein Blitzdings war wohl auch nicht mehr ganz in Ordnung gewesen. Ich weiß nur nicht, ob ich Ihnen wirklich sagen soll, was aus uns nach unserem Tod wird. Naja, sie müssen ja nicht weiterlesen… Echt, lassen Sie es lieber. Das wollen Sie nicht wirklich wissen. Ich will es einmal so andeuten: Im Hier und Jetzt stehen wir ganz lässig an der Spitze der Nahrungskettenpyramide, mit dem Tod ändert sich das: Wir rutschen im „Danach“ ein gutes Stück nach unten! Wirklich ein ganzes Stück.
Wir werden zu einer Art lebenden Hundefutter für siebendimensionale Larven von …, keine Ahnung, den Namen habe ich vergessen. Diese Kerle in der siebten Dimension brauchen Lebendfutter! Uns!
Wir nehmen sozusagen den umgekehrten Weg der Libellen: Aus uns werden eine Art Puppen (er hat es anders genannt, aber ich habe es so verstanden), die in einer Art Ernährungssoße liegen und darauf warten, dass eine Art Vampir kommt, um uns auszusaugen. Das ist jetzt kein richtiges Auffressen, er saugt uns „nur“ die Lebensenergie aus. Irgendetwas in der Art.
Er hat gesagt, das Tröstliche für uns sei, dass wir das alles gar nicht mitbekommen: Wir denken (tun wir nicht, das wird in uns „eingespielt“), wir lebten "danach" in einer traumhaft schönen Welt. Während des Überganges haben wir die Wahl, welche Form unser virtueller Körper für das Danach annehmen soll. Beliebt seien so etwas wie Lemuren, die mit langen Greifschwänzen in den Wipfeln von Riesenbäumen herumstreifen, um die süßesten Früchte zu ernten.
Gerne genommen werde auch die Figur eines Riesen-Flugsauriers, der tagelang in der Luft bleiben kann, um die virtuelle Landschaft zu genießen. Und die sei wirklich gut gemacht, hat der Tod gesagt.
Für Freaks gibt es noch so etwas wie dutzendarmige Tintenfische mit sehr großen gasgefüllten Köpfen, die sie durch die Luft treiben lassen. Da sie mit der ganzen Haut schmecken können, genießen sie wunderbare laue Lüfte, die sie umspielen… Das sei alles ganz toll, hat der Tod mir erzählt, aber nicht real, nur virtuell. In Wirklichkeit liegen wir in Schalen in dieser Ernährungsbrühe. Aber das sei egal, da wir es sowieso nicht unterscheiden könnten.
Zu Schluss käme allerdings in jedem Fall der Art Vampir, um zu saugen… Und dann sei wirklich Schluss. Danach käme tatsächlich gar nix mehr. Das sei vielleicht auch besser so, hat er noch gesagt. Er hat dann noch etwas von „arme Kerle“ gemurmelt, aber das war kaum zu verstehen, das kann ich mir auch eingebildet haben…
Nicht gut, oder? Aber es führt wohl kein Weg daran vorbei. Und manchen von uns gönne ich es sogar!